Mit meinem lieben Stammkunden Tim unternahm ich im Sommer einen wunderbaren Kurztrip nach Potsdam. Wir wohnten über das Wochenende in einem tollen Hotel direkt am Brandenburger Tor, fußläufig nur zehn Minuten vom Park Sanssouci entfernt. An den lauen Abenden konnten wir draußen am Luisenplatz sitzen und Cocktails genießen. Wir machten schöne Spaziergänge durch die Stadt mit dem Holländerviertel und besichtigten das Schloss. Am Samstag waren wir im Filmpark Babelsberg, worauf sich Tim ganz besonders gefreut hatte. Er ist im Alter von 18 Jahren erblindet und hat große Freude an richtig actionreichen Unternehmungen, bei denen er richtig viel spürt. Deshalb waren das 4D-Aktionkino und die Stunt-Show die absoluten Highlights an diesem Tag. Ich beschrieb ihm so gut ich konnte alles passend dazu, was zu hören und zu spüren war. Das eigentliche Abenteuer lag allerdings noch vor uns.
Für den Sonntag hatten wir nach der Schlossbesichtigung einen Ausflug zum Schwielowsee am Stadtrand geplant, bevor wir am Nachmittag mit dem Zug zurück fahren würden. Unser Trip sollte also eigentlich ganz entspannt enden.
In Potsdam gab es an dem Wochenende viele Baustellen, sodass auch die öffentlichen Verkehrsmittel nur sehr eingeschränkt fuhren. Also nutzten wir das Carsharing-Angebot der Deutschen Bahn, um mit dem Auto zum See zu fahren. Auch am Hauptbahnhof befand sich eine riesige Baustelle, so dass ich mich schon bei der Ausfahrt aus dem Parkhaus fragte, wohin wohl die Einfahrt verlegt wurde. Wir verbrachten jedoch zunächst ein paar schöne Stunden am See. Leider war der Tag etwas trüb und windig, so dass wir nicht baden konnten. Für den Nachmittag war noch dazu Regen angesagt, der leider pünktlich zu dem Zeitpunkt einsetzte, als wir den 10-minütigen Fußweg zurück zum Auto antreten wollten. Unsere Badetücher nutzten wir als Schutz vor dem heftigen Regen, denn warten konnten wir nicht, da wir einen Zug erwischen mussten. Eigentlich lagen wir auch richtig gut in der Zeit – bis wir die große Baustelle rund um den Bahnhof erreichten.
Bedauerlicherweise wusste Google Maps nicht Bescheid, dass verschiedene Zu- und Ausfahrten verändert wurden und teilweise gesperrt waren. Es führte uns hinter dem Bahnhofsgebäude entlang zu einem Parkhaus und ich freute mich schon, dass es doch so einfach schien. Dass wir in das falsche Parkhaus gefahren waren, bemerkten wir sehr schnell – leider jedoch, als wir bereits drin waren. Und obwohl wir dort gerademal zwei Minuten umhergefahren waren, mussten wir auch noch eine Gebühr entrichten. Also hieß es: nochmal an der Schranke zurücksetzen und am Parkautomaten zahlen. So langsam gerieten wir unter Zeitdruck…
Das Auto musste jedoch an seinen Platz zurückgestellt werden und so fuhren wir wieder auf die Hauptstraße, um erneut eine Einfahrt auf den Bahnhofsvorplatz und zum richtigen Parkhaus zu suchen. Natürlich konnte man auf der 4-spurigen Hauptstraße nicht einfach wenden. Noch dazu bin ich keine sehr erfahrene Autofahrerin, so dass mich solche Situationen außerordentlich stressen. Wir fuhren wieder zur eigentlichen Einfahrt, die allerdings wegen der Bauarbeiten nur von Linienbussen als solche genutzt werden durfte. In meiner Verzweiflung setzte ich an der Ampel trotzdem den Blinker links, blieb allerdings etwas verunsichert auf den Straßenbahnschienen stehen, um den ausfahrenden Bus vorzulassen. Außerdem war da rechts von uns noch eine Straße mit einer Reihe Autos – die hatten aber zu unserem Glück Rot. Ich fuhr los, als der Bus weg war. Mir entgegen kam noch ein PKW, dessen Fahrer wild gestikulierte. Ich versuchte, mit ebensolchen Gesten verständlich zu machen, dass ich verbotenerweise geradeaus in die Ausfahrt fahren wollte. Irgendwie schaffte ich es unfallfrei, mein Herz schlug bis zum Hals. Hoffnung, dass wir den Zug erreichen, hatten wir aber noch – auch, wenn sie klein war.
Ich fuhr an derselben Stelle des Parkhauses rein, an der ich mittags herausgefahren war, aber es sah alles danach aus, dass dies nur die Ausfahrt war. In ein Parkhaus in die Ausfahrt hineinzufahren, war mir aber definitiv zu gefährlich. Immerhin saß auch Tim im Auto. Ich hielt bei der Ausfahrt neben einem Baucontainer an, um zu überlegen, wie wir weiter verfahren. Zum Glück waren keine Arbeiter da. Zunächst wählte ich die Servicenummer des Carsharing-Dienstes, landete aber in der Warteschleife. Nach kurzer Zeit legte ich auf und entschied mich, in die Bahnhofshalle zu gehen, um dort nachzufragen, denn die Hoffnung, den Zug noch rechtzeitig zu erreichen, hatte ich in dem Moment aufgegeben. Tim musste ich allein im Auto lassen, was mir sehr unangenehm war. Schließlich konnte er nicht sehen, falls von irgendwoher eine Gefahr drohte – an dieser Stelle hätte das Auto ja gar nicht stehen dürfen. Kaum war ich ausgestiegen, sah ich, dass neben dem Bereich, den ich ausschließlich für die Ausfahrt des Parkhauses gehalten hatte, doch auch eine Einfahrt war.
Ich eilte also zum Auto zurück, rangierte aus der Lücke neben dem Baucontainer heraus, wobei ich große Angst hatte, dass gleich aus der Ausfahrt jemand herausfahren könnte. Wir wären nicht zu sehen gewesen und es hätte definitiv einen Unfall gegeben. Schnell war das allerdings auch geschafft und, weil ein Funke Hoffnung aufblitzte, fuhr ich zügig wie noch nie im Parkhaus bis zur richtigen Ebene. Sogar das Einparken in der engen Lücke ging, ohne viel Zeit zum Nachdenken zu haben, ganz fix. Wir hatten noch vier Minuten Zeit.
Ich durfte nicht vergessen, den Autoschlüssel an die richtige Stelle zu stecken und mich noch abzumelden. Wir hatten außerdem nicht wenig Gepäck. Und Tim konnte natürlich nicht allein gehen.
Wir schnappten unsere Rollkoffer, Tim hielt sich an meinem Arm fest und wir liefen so schnell wir konnten los. Zuerst mussten wir durch eine schwere Stahltür, was mit wenig Zeit, dem ganzen Gepäck und so aneinanderhängend sehr schwierig war. Dann kam ein Lift. Wir fuhren erst in die falsche Etage, also wieder zurück nach oben, nun durch eine Glastür, einen Gang entlang durch die Bahnhofshalle (zum Glück waren wir schon auf der oberen Ebene) und zur Rolltreppe, die zum Gleis führte. Tim musste mir noch mehr als sonst absolut vertrauen, denn ich konnte mich nicht zusätzlich darauf konzentrieren, ihm zu erklären, was gerade geschieht. Das klappte allerdings ganz hervorragend und als wir auf der Rolltreppe standen, waren es noch ungefähr 30 Sekunden bis zur Abfahrt. Ich kann mir absolut nicht erklären, wie wir so schnell vorangekommen waren, obwohl wir durch Tim’s Handicap und unser Gepäck nicht rennen konnten.
Nach Luft schnappend saßen wir schließlich im Zug. Die ganze Anspannung fiel von uns ab und wir fielen uns lachend in die Arme. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis mein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Am beeindruckendsten fand ich, wie wir beide das trotz des Handicaps so gut hinbekommen haben. Es hat sich gezeigt, wie vertraut wir bereits miteinander sind und ich bin so stolz auf Tim, dass er sich so vertrauensvoll auf mich verlassen hat. Trotzdem werde ich beim nächsten Mal zunächst genauer checken, wie ich einen Mietwagen wieder an seinen Platz bekomme, denn einmal ein solches Abenteuer reicht für einige Jahre.